Gedichte in Prosa by Iwan Turgenjeff

Gedichte in Prosa by Iwan Turgenjeff

Autor:Iwan Turgenjeff
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 2011-10-12T19:27:51+00:00


Zwei Brüder

Ich hatte eine Vision ...

Es erschienen vor mir zwei Engel ... zwei Genien. Ich sage: Engel ... Genien – weil kein Gewand ihren nackten Körper verhüllte und beide an den Schultern mächtige, lange Flügel besaßen.

Beide waren Jünglinge. Der eine hatte einen üppigen Wuchs, eine zarte Haut und schwarzlockiges Haar. Seine Augen waren braun, feurig und von dichten Wimpern beschattet; sein Blick einschmeichelnd, heiter und verlangend. Bezaubernd und verführerisch war sein Antlitz, mit einem Anflug von Verwegenheit und Tücke. Ein leises Zucken spielte um die vollen, rosigen Lippen. Der Jüngling lächelte, wie im Gefühl überlegener Macht – selbstbewußt und doch nachlässig; ein herrlicher Blumenkranz schmiegte sich sanft um seine glänzenden Locken, so daß er die sammetgleichen Brauen fast berührte. Ein scheckiges Leopardenfell, von einem goldenen Pfeil zusammengehalten, hing leicht von der rundlichen Schulter bis auf die schwellende Hüfte herab. Das Gefieder seiner Schwingen spielte in den Farben der Rose; ihre Spitzen waren leuchtend rot, gleich als wären sie in purpurnes, frisches Blut getaucht. Von Zeit zu Zeit durchflog sie ein leichtes Zittern, begleitet von einem angenehmen, silberhellen Rauschen, dem Rauschen eines Frühlingsregens.

Der andere Jüngling war hager und von gelblicher Hautfarbe. Bei jedem Atemzug wurden seine Rippen in leichten Umrissen sichtbar. Sein Haar war fahl, dünn und schlicht; die Augen übergroß, rund und blaßgrau ... der unheimlich glänzende Blick verriet Unruhe. Alle Gesichtszüge hatten etwas Scharfes; der kleine, halbgeöffnete Mund wies Fischzähne auf; die Adlernase war schmal, das Kinn vorspringend und mit weißlichem Flaum bedeckt. Über diese welken Lippen ist noch nie, niemals ein Lächeln geflogen. Das war ein starres, furchtbares, mitleidsloses Antlitz! (Auch das Antlitz jenes anderen, schönen Jünglings – obwohl liebreizend und sanft – war ohne jeden Zug von Mitleid.) Um das Haupt dieses zweiten schlangen sich einige taube, zerknickte Ähren, von einem verwelkten Hälmchen durchflochten. Ein grober grauer Schurz wand sich um seine Lenden; die Flügel auf seinem Rücken, tiefblau und glanzlos, bewegten sich langsam und drohend.

Beide Jünglinge schienen unzertrennliche Gefährten zu sein.

Sie lehnten sich Schulter an Schulter. Die kleine weiche Hand des ersten ruhte wie eine Weintraube auf der mageren Achsel des anderen; die schmale Hand dieses anderen wand sich mit ihren langen, dürren Fingern wie eine Schlange um die fast weibliche Brust des ersten.

Und ich vernahm eine Stimme. Sie sprach also:

»Vor dir stehen Liebe und Hunger – zwei leibliche Brüder, die zwei Grundpfeiler allen Lebens.

»Alles, was da lebt, regt sich, um sich zu nähren, nährt sich, um sich fortzupflanzen.

»Liebe und Hunger – ihr Ziel ist das gleiche: zu wirken, damit das Leben nicht versiege – das eigene wie das fremde, – ja, das gesamte Leben.«



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